Online Fernklausuren in Mathematik

Im letzten Semester mussten aufgrund der Pandemie viele Prüfungen in anderen (oft digitalen) Formaten abgehalten werden. Für das laufende Sommersemester – auch wenn sich die Lage derzeit bessert – scheint es mir wahrscheinlich, dass zumindest Prüfungen mit vielen Teilnehmern weiterhin Einschränkungen unterworfen sind. Daher will ich die Gelegenheit nutzen, um ein paar Überlegungen zu sammeln, wie Prüfungen für große Mathematikvorlesungen vollständig online durchgeführt werden könnten.

Schon im letzten Semester wurden an meiner Uni (der FernUniversität in Hagen) alle Prüfungen online durchgeführt. Das hört sich zunächst seltsam an: Macht die FernUniversität das denn nicht immer so? Zumindest in der Mathematik wurde bisher auf Präsenzprüfungen bestanden, auch um die Vergleichbarkeit der Prüfungen mit denen an Präsenzunis sicherzustellen. Das Feedback der Studierenden zu den virtuellen Prüfungen war insgesamt eher positiv. Ich kann mir vorstellen, dass (je nach Lebenslage mit guten Gründen) die Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt ein großes Hindernis sein kann. Die Nachfrage nach anderen Prüfungsformen wird jedenfalls auch nach der Pandemie weiterhin bestehen.

Die Ausgangslage

Gesucht: Eine sichere und anspruchsvolle Prüfungsform für Mathematikvorlesungen an der jede Teilnehmerin online an einem Ort ihrer Wahl an der Prüfung teilnehmen kann. Die in der Prüfung erbrachte Leistung soll dabei im Wesentlichen vergleichbar mit einer klassischen Präsenzklausur sein.

Dabei habe ich vor allem große Vorlesungen aus dem Grundstudium (Analysis, Lineare Algebra, Mathematik für …) im Sinn. Es gibt natürlich schon viele Überlegungen zu virtuellen Prüfungen und auch viele Abhandlungen dazu (siehe z.B. hier). Ich finde aber viele Vorschläge unkonkret oder zumindest schwer auf Mathematik übertragbar.

Die These, die ich hier vertrete, ist, dass die oben genannten Ziele in gewissem Maße unvereinbar sind. Man kann mit großem Aufwand eine sichere und anspruchsvolle virtuelle Prüfung durchführen. Will man aber alle damit verbundenen Probleme berücksichtigen, gelangt man notwendig zu einer Prüfungsform, die sich von der klassischen Präsenzprüfung unterscheidet.

Papier oder Technik

Es gibt viele Programme, die Hilfsmittel für Online-Prüfungen zur Verfügung stellen. Dabei gibt es neben Multiple-Choice Aufgaben auch viele flexible Aufgabenformate. Um nur ein Beispiel zu nennen: Rechenaufgaben mit Parametern, die für jede Teilnehmerin zufällig gewählt werden. Dazu kommt, dass viele solcher Aufgabenarten auch automatisiert korrigiert werden. Mit etwas Erfahrung und Vorbereitung kann man damit ohne Zweifel anspruchsvolle Klausuren zusammenstellen (und hat weniger Arbeit mit der Korrektur). Insbesondere in Serviceveranstaltungen kann ich mir das vorstellen. Allerdings ist die Bewertung von Multiple-Choice Aufgaben immer etwas heikel. Es gibt mehrere seltsame Gerichtsurteile zu Multiple-Choice-Prüfungen. Auch wenn nicht immer klar ist, ob sich die Urteile 1-1 übertragen lassen, haben viele Universitäten (zumindest in NRW) den Einsatz von Multiple-Choice an strenge Auflagen gebunden (z.B. ab 60% erreichten Punkten oder weniger als 10% unter dem Durchschnitt gilt die Klausur als bestanden). Durch diese Regelungen beschneidet der Einsatz von Multiple-Choice aus meiner Sicht die pädagogische Freiheit zu stark, um diese Prüfungsform sinnvoll einzusetzen.

Was mir bei allen Softwarelösungen fehlt, ist eine Möglichkeit Beweise und Formeln ohne LaTeX oder umständliche Formeleditoren einzugeben. Ohne diese Hilfe bleibt nur die Möglichkeit Lösungen von Hand zu schreiben und einzuscannen bzw. zu fotografieren. Ist es dann nicht einfacher, die ganze Klausur auf Papier schreiben zu lassen? Ein weiteres Argument für diese Papier-Form ist, dass die Prüfung dadurch einer Präsenzprüfung ähnlicher wird.

Hindernisse für Online-Prüfungen

Von den zahlreichen Hindernissen, die einer gelungenen virtuellen Prüfung im Wege stehen, möchte ich hier nur die drei offensichtlichsten ansprechen.

Problem 1: Identitätsüberprüfung. Wie kann ich sichergehen, dass die richtige Person die Klausuraufgaben löst? Schon in den althergebrachten Präsenzklausuren ist die Identitätsüberprüfung nicht sonderlich gut. Jeder, der schon einmal eine Klausur beaufsichtigt hat, weiß, dass das Bild auf dem Personalausweis keine große Hilfe ist. Klausurghostwriter die sich auf Mathe spezialsiert haben, bieten im Internet offen Ihre Dienste an (man suche auf Ebay-Kleinanzeigen). Durch die virtuellen Prüfungen hat sich das Problem verschärft, weil die Gefahr erwischt zu werden, für die Ghostwriter verschwindet. Einen Lichtbildausweis in eine Kamera zu halten, bietet sicherlich keine Lösung für dieses Problem. Viele alternative Vorschläge (Erfassung der Fingerabdrücke, digitale Studentenausweise, o.ä. ) sind technisch aufwändig und lösen aber das Problem nur unzureichend. Am besten gefällt mir folgende Idee, die allerdings ebenfalls schwer umsetzbar ist: Alle Studierenden geben (z.B. bei Einschreibung) eine Schriftprobe ab. Die Handschrift ändert sich bei Erwachsenen kaum. Wird nun eine handschriftliche Klausur eingereicht, kann man anhand der Handschrift relativ gut erkennen (evtl. mit technischen Hilfsmitteln) ob der Verfasser der eingeschriebene Student ist.

Problem 2: Wurde die Klausur selbstständig bearbeitet? Aus dem vergangenen Semester wurden in einigen Medien Fälle berichtet, in denen Gruppen von Studierenden in Online-Prüfungen auffällig gleiche (falsche!) Antworten abgegeben haben (z.B. hier im Handelsblatt). Will man sichergehen, dass Prüfungsteilnehmer selbstständig arbeiten, kommt man wahrscheinlich um eine Form der Überwachung (“Proctoring”) nicht herum. Es gibt auch dazu wieder viele Programme, die mithilfe der Webcam die Schreibenden überwachen: entweder werden Videos oder Bilder gespeichert oder es gibt eine Live-Aufsicht. Jedenfalls ist der Aufwand ziemlich hoch und die Sicherheit, die man dadurch erreicht eher schwach. Und was passiert eigentlich, wenn das Internet mal 5 Minuten ausfällt? Deshalb denke ich, dass man hier zusätzliche Maßnahmen ergreifen muss, die eine Zusammenarbeit erschweren. Eine stärkere Individualisierung der Klausuren (z.B. jede Aufgabe in zwei Varianten erstellen und den Teilnehmerinnen zulosen) hilft sicherlich, ist aber ebenfalls ein erheblicher Mehraufwand.

Problem 3: Unerlaubte Hilfmittel? Den Einsatz von Hilfmitteln durch “Proctoring” vollständig zu unterbinden, halte ich für illusorisch. In den eigenen vier Wänden gibt es einfach zu viele Möglichkeiten, um Hilfsmittel zu platzieren. Ich würde deshalb bei einer Online-Klausur zu einer Art “Open Book” Format tendieren und Hilfsmittel wie Bücher und Notizen erlauben. Um das zu kompensieren, könnte man die Klausur etwas umfangreicher gestalten und etwas Zeitdruck erzeugen. Jemand, der den Inhalt gut verstanden hat, wird die richtigen Antworten immer schneller geben kann, als ein Teilnehmer, der vieles nachschlägt.

Das größere Problem sind Hilfsmittel wie Computer Algebra Systeme. Wenn ich an typische Aufgaben in einer Klausur zur Linearen Algebra denke, dann hätte man mit einem CAS einen deutlichen Vorteil. Wie sollte man damit umgehen, wenn man den Einsatz auch mit Proctoring nicht vollständig ausschließen kann? Eine Möglichkeit wäre einige Aufgabentypen auszusortieren oder Aufgaben so zu stellen, dass eine Bearbeitung mit dem Computer zumindest umständlich wird (in der Linearen Algebra: andere Körper, Parameter, mehr Verständnisfragen…).

Fazit

Ich glaube, dass es möglich ist, eine sichere und anspruchsvolle Mathmatikklausur online durchzuführen. Dazu muss natürlich die notwendige technische Infrastuktur vorhanden sein um Proktoring und Methoden zur Identitätskontrolle einsetzen zu können. Allerdings sehe ich auch die Notwendigkeit Klausuren anders zu konzipieren (andere Aufgabentypen, mehr Aufgaben) und diese zusätzlich stärker zu individualisieren. Das bedeutet für die Prüfenden nicht nur einen deutlichen Mehraufwand. Zusätzlich verändern solche Anpassungen den Charakter der Prüfung, wodurch die Vergleichbarkeit mit der Präsenzprüfung beeinträchtigt wird.

In der momentanen Ausnahmesituation bleibt einem ohnehin nichts anderes übrig, als sich für einen umsetzbaren Kompromiss aus Sicherheit und Vergleichbarkeit mit der klassichen Klausur zu entscheiden. Studierende, die diese Phase nutzen, um sich Prüfungsleistungen zu erschummeln, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auffliegen, sobald es wieder die gewohnten Klausuren gibt. Eine vollständige Umstellung auf virtuelle Klausuren würde aus meiner Sicht aber eine beträchtliche Änderung in der Planung und Ausgestaltung von Prüfungen nach sich ziehen.