Mathematikleistungen von Schüler*innen der gymnasialen Oberstufe

Im Journal für Mathematik-Didaktik ist letztes Jahr ein Artikel von Rolfes-Lindmeier-Heinze erschienen (DOI:10.1007/s13138-020-00180-1), welcher die seit 1995 durchgeführten Schulleistungsuntersuchungen zu Mathematikleistungen in der Oberstufe einer Sekundäranalyse unterzieht, d.h. auf vergleichbare Skalen transformiert und vergleicht.

Viele Dozierende in den MINT-Fächern klagen bei Studienanfänger*innen über schlechte Mathematikkenntnisse und es wird auch ein Verfall dieser über die letzten Jahrzehnte postuliert. Antworten auf unter anderem diese beiden Fragen liefert der besagte Artikel. Ich stelle exemplarisch ein paar Ergebnisse vor (teilweise wörtlich aus dem Artikel zitiert):

  1. Zwischen den Bundesländern gibt es deutliche Disparitäten in Bezug auf die erzielten Mathematikleistungen.
  2. In den Grundkursen ist am Ende der gymnasialen Oberstufe(!) ein erheblicher Teil der Schüler*innen immer noch nicht den allgemeinbildenden Leistungsanforderungen gewachsen, die für den Mittleren Schulabschlusses erwartet werden.
  3. Im Bereich der Studierfähigkeit zeigten die Abiturient*innen unbefriedigende Leistungen. Nur eine Minderheit verfügte über Fähigkeiten zu fachspezifischen Lerninhalten der gymnasialen Oberstufe (z.B. verständiger Umgang mit elementaren Grundvorstellungen zum Integral). Lediglich in den Leistungskursen zeigte ein großer Teil der Schüler*innen Fähigkeiten, die man für die Studierfähigkeit der MINT-Fächer mindestens erwarten sollte.
  4. Bezüglich der Leistungsentwicklung von Abschlusskohorten lässt sich vermuten, dass die Leistungen der Abiturient*innen ungeachtet struktureller Veränderungen innerhalb der Bundesländer im Zeitverlauf relativ stabil sind.

Die schlechten Mathematikkenntnisse bei Studienanfänger*innen werden also, zumindest wenn keine Leistungskurse zur Mathematik im Abitur besucht wurden, bestätigt. Der postulierte Verfall dieser Fähigkeiten über die letzten Jahrzehnte konnte aber widerlegt werden.

In der Diskussion ihrer Ergebnisse schreiben die Autor*innen des Artikels: “Angesichts der empirischen Daten ist zumindest für die MINT-Studienfächer fraglich, inwieweit das Abitur dem Anspruch als Allgemeine Hochschulreife jemals gerecht geworden ist. […] Vor diesem Hintergrund stellt sich daher die Frage, ob diese Zielsetzung zu hoch angesetzt ist. […] Für den Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe würde sich dann die Frage stellen, welche grundlegenden mathematischen Fähigkeiten vermittelt werden sollten. […] Wie die Studie Mathematische Lernvoraussetzungen für MINT-Studiengänge (MaLeMINT, Neumann et al. 2017) zeigte, erwarten die Hochschuldozierenden der MINT-Fächer nicht unbedingt die Beherrschung von elaborierten fachspezifischen Unterrichtsinhalten der gymnasialen Oberstufe (z.B. partielle Integration), sondern vor allem die sichere Beherrschung elementarer algebraischer Grundfertigkeiten der Sekundarstufe I (z.B. Termumformen, Lösen linearer und quadratischer Gleichungen).”

One thought on “Mathematikleistungen von Schüler*innen der gymnasialen Oberstufe”

  1. Hey Alex,
    das ist sehr interessant und ich bin ebenfalls skeptisch, ob die aktuellen Jahrgänge wirklich signifikant schlechter vorbereitet sind. Aber der Kommentar im Artikel hört sich deutlich vorsichtiger an und endet mit der Bemerkung:
    “Diese Beobachtung würde in gewissem Kontrast zur aktuellen Diskussion stehen. Allerdings ist die Befundlage für diese Fragestellung insgesamt sehr dünn, so dass keine über eine Vermutung hinausgehende abschließende Beurteilung erfolgen kann.”

    Viele Grüße, Steffen

Comments are closed.