Akademisches und schulbezogenes Fachwissen

Das braucht man doch nie in der Schule! ist ein oft gehörtes Argument, wenn sich Studierende des gymnasialen Lehramts der Mathematik über die Inhalte ihrer Fachvorlesungen beschweren.

Sie hören in den ersten Semestern oft dieselben Vorlesungen wie ihre Kommilitonen, welche die Mathematik auf einen Bachelor studieren, und in der Tat ist ein Teil des erlernten Stoffes irrelevant für die Schule, weil er sehr weit über die Schulmathematik hinaus geht. Ich persönlich fand das schon immer etwas fragwürdig das die Lehramtsstudierenden unter anderem auch Inhalte vermittelt bekommen, die sie nie in der Schule verwenden würden, und so diskutierte ich ab und zu mit Kollegen darüber. Dabei kam (fast) immer das Argument, dass man ja die Materie von einem höheren Standpunkt aus verstanden haben muss.

Es wird also regelmäßig postuliert, dass akademisches Fachwissen allein hinreichend sei, um schulmathematisches Wissen zu entwickeln – die sog. Trickle-down-Annahme. Das jetzt aber zum Beispiel die Galois-Theorie (sie ist fester Bestandteil des Staatsexamens in Bayern) einem Lehrer, bzw. einer Lehrerin dabei helfen soll seinen Schülern und Schülerinnen die Schulmathematik besser beizubringen, konnte ich nie so recht glauben. In den Diskussionen mit Kollegen war es mir aber nicht möglich gegen diese Trickle-down-Annahme ankommen, denn das Argument mit dem höheren Standpunkt klingt ja an sich erstmal nicht unplausibel.

Im Journal für Mathematik-Didaktik ist kürzlich eine Studie erschienen (https://doi.org/10.1007/s13138-019-00152-0) die sich dieser Trickle-down-Annahme angenommen hat. Ich zitieren aus dem Abstrakt:

Detailanalysen weisen darauf hin, dass der unmittelbare Effekt des akademischen Fachwissens auf die Entwicklung eines schulbezogenen Fachwissens allenfalls gering ist. […] Die Trickle-down-Annahme wird durch diese Ergebnisse nicht gestützt.

Aus den Ergebnissen dieser Studie könnte man jetzt folgende Vorschläge herausarbeiten zur Umstrukturierung mancher Fachinhalte des gymnasialen Lehramts der Mathematik:

  • Sehr fortgeschrittene mathematische Inhalte (zum Beispiel die Galois-Theorie in Bayern) bräuchten nicht mehr behandelt zu werden, da sie keinen nennenswerten Effekt auf die Qualität der Ausbildung unserer Mathematik-Lehrer und -Lehrerinnen hat. Stattdessen sollte man die dadurch freigewordene Zeit nutzen, um zum Beispiel Lehrveranstaltungen zur Verknüpfung des erworbenen akademischen Fachwissens (zum Beispiel aus der Analysis und der Linearen Algebra) mit dem schulmathematischen Wissen herzustellen. (Dieser Vorschlag wird so auch in der zitierten Studie erwähnt.)
  • Erhöhung des Praxis-Anteils im Lehramtsstudium. Die zitierte Studie hat weiterhin gezeigt, dass Praxiserfahrung einen positiven Einfluss hat auf die Entwicklung eines schulbezogenen Fachwissens. Das ist jetzt vielleicht wenig überraschend, aber trotzdem sind die Praxisanteile im Lehramtsstudium (ich rede hier jetzt hauptsächlich wieder von der Situation in Bayern, wo ich sie besser kenne) oft recht klein (viele Lehramtsstudierende aus meinem persönlichen Umfeld beschwerten sich unter anderem auch oft hierüber).